Hinter dem eisernen Vorhang
In den Jahren 1981 bis 1985 durfte ich für das Bieler Tagblatt regelmässig Kolumnen schreiben. Für mich ist es spannend, hin und wieder etwas zurückzublättern und zu lesen, was mich vor einem Vierteljahrhundert beschäftigt hat. Am Samstag, 19. Mai 1984 habe ich beispielsweise folgenden Text publiziert:
Hinter dem eisernen Vorhang
„Aha, Sie sind Agrarwissenschafter, da werden Sie bei uns im Land einiges lernen können“, sagte der DDR-Zöllner nicht ohne Stolz, während er gemächlich meinen Reisepass durchblätterte. „Bei uns ist die Landwirtschaft weit fortgeschritten.“
Das war nun also der Eiserne Vorhang, der die westlich-kapitalistische Welt von der östlich-sozialistischen abgrenzt: Eine breite Waldschneise mit einer ganzen Anzahl furchterregender Drahtzäune, Eisengitter, Stacheldrahtverhaue, Wachtürme. Dazwischen alte Baracken als Zollposten. Ich habe mir fest vorgenommen, die paar Ferien- und Reisetage in der DDR möglichst unvoreingenommen anzugehen. Der erste Eindruck an der Grenze erschwert diese Absicht bereits ungemein. Zweiter Eindruck: Da die Strassen in der BRD bekanntlich in einem ausgezeichneten Zustand sind, fällt sofort nach der Grenze auf, wie viel holpriger es nun im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat weitergeht. Die Dörfer wirken etwas verwahrlost, viele Häuser sind in einem schäbigen Zustand. Aber ich will mich ja nicht nur an Äusserlichkeiten, die uns wichtig scheinen, über die Deutsche Demokratische Republik orientieren. Die Lebensqualität hängt ja nicht (nur) von schönen Strassen und gepflegten Hausfassaden ab. Nach der an Hetzjagden erinnernden Fahrweise der westdeutschen Automobilisten sind die wenigen ostdeutschen „Sonntagsfahrer“ eine richtige Wohltat. Überhaupt scheint die Zeit in einigen Gegenden Ostdeutschlands seit den fünfziger Jahren stillgestanden zu sein: kaum Verkehr, etwas „armüeteligi“ Dörfer. Einzige Auflockerung der grauen Fassaden bilden die unzähligen roten und DDR-Fahnen sowie die offenbar von der Einheitspartei überall aufgestellten Parolen wie: „Je stärker der Sozialismus, desto sicherer der Friede“, „Im guten Bündnis mit der Sowjetunion für die Stärkung des Sozialismus und des Friedens“, „Andauernder Aufschwung in der DDR-Wirtschaft…“. Die starke Abhängigkeit vom grossen Bruder Sowjetunion ist unverkennbar. Aber im Westen haben schliesslich die USA eine vergleichbare Führungsrolle inne.
Besonders interessiert haben mich natürlich die sogenannten LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften), Grossbetriebe, die im sozialistischen Deutschland die privaten Landwirtschaftsbetriebe völlig abgelöst haben. Es gibt in der DDR 1101 „LPG Pflanzenproduktion“ mit im Durchschnitt je Betrieb 254 Genossenschaftsbauern und Arbeitern auf durchschnittlich 4741 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche pro Betrieb. Daneben gibt es 2868 „LPG Tierproduktion“ mit durchschnittlich 112 Genossenschaftsbauern und Arbeitern und einem durchschnittlichen Viehbestand von 1576 Grossvieheinheiten. „Die Genossenschaftsbauern sind Eigentümer und Produzenten zugleich, sie sind von Ausbeutung befreite Bauern, die mit Unterstützung der Arbeiterklasse zunehmend industriemässige Produktionsmethoden anwenden und vervollkommnen“, heisst es in einer programmatischen Schrift der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.
Ich wollte das mit eigenen Augen sehen. Ohne Voranmeldung habe ich im Süden der DDR einige LPG zufällig ausgesucht und soweit möglich besichtigt. Wahrscheinlich ist es vermessen, nach drei Tagen ein Urteil über diese Form der Landwirtschaft fällen zu wollen. Immerhin veranlasst mich das, was ich gesehen habe, die optimistischen Äusserungen der kommunistischen Vorsitzenden über ihre Landwirtschaft etwas zu relativieren. Natürlich gleichen DDR-Landwirtschaftsbetriebe eher einem gigantischen Industriebetrieb als einem Berner Bauernhof. Aber schon der mangelhafte Unterhalt der riesigen Landmaschinen, die überall im Freien herumstehend vor sich hin rosten, lässt darauf schliessen, dass das Interesse und der Arbeitseifer der Genossenschaftsbauern nicht über alle Zweifel erhaben ist. Hofplätze und Umgebung der LPG strotzen vor Dreck und Unrat. Viele Gebäude sind schlecht oder gar nicht unterhalten. Mich hat es erstaunt, dass trotzdem allenthalben die „vorgegebenen Planziele erreicht oder sogar überschritten wurden“. Ich fürchte, dass die kommunistischen Technokraten bei der Bildung und Schaffung ihrer Agro-Industrie-Komplexe den Menschen vergessen haben. Jedenfalls kommentieren mir gegenüber junge Arbeiter, die nicht enden wollenden Erfolgsmeldungen über das unaufhaltsame Wachstum der DDR-Wirtschaft, den segensreichen Wohnungsbau, die hohe Stimmbeteiligung bei den Kommunalwahlen (99,88%!) mit einem abschätzigen „Ist doch alles Quatsch!“Sehen so die verwirklichten Ziele von Marx, Engels, Lenin und der revolutionären Arbeiterbewegung aus? Steigt so „die Morgenröte einer neuen und besseren Gesellschaft für die unterdrückten Klassen aller Länder leuchtend empor“?
Ich wage es zu bezweifeln.
19. Mai 1984
Fünfeinhalb Jahre später, am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer und damit der eiserne Vorhang.
Es gibt wahrscheinlich keinen Gott…
Eigentlich ein Roman…
„Jakob schläft“ heisst der kleine, komprimierte Roman von Klaus Merz den ich gestern Sonntag mit grosser Begeisterung gelesen habe. Klaus Merz erzählt vom Schicksal (s)einer Familie in den fünfziger und frühen sechziger Jahren aus einem Dorf im schweizerischen Mittellland. „Ein grosses kleines Buch, dicht, warm, behutsam – und voller leiser Glücks- und Schmerzmomente, kurz: ein poetisches Juwel.“ schreibt dazu Markus Werner.
Ich kann dem nur beipflichten.
Eichenwälder
Auch Eichenbäume wachsen nicht in den Himmel…
… auch in der Gascogne nicht…
… manchmal sterben sie ab und keiner weiss warum.
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