AUSWANDERERBLOG

Liebe Erstaugustredner

Posted in Karikaturen by ruedibaumann on Juli 26, 2010

MARTIN BÜHLER

„Liebe Augustredner!
Noch dreimal schlafen. Dann noch drei Nächte, in denen Sie von Lampenfieber geschüttelt im schweissgetränkten Pyjama wach liegen. Und dann ist Sonntag, der 1. August. Der Tag Ihres grossen Auftrittes.

Ärgern Sie sich nicht darüber, dass Sie nur die Nummer 8 auf der Kandidatenliste des Organisationskomitees der Bundesfeier waren.

Die ersten sieben hatten schlicht die bessere Ausrede. Nein, stimmen Sie sich positiv ein! Nehmen Sie sich zum Beispiel vor, die beste Augustrede der Welt zu halten. Wenn Sie diese Absicht publik machen, ernten Sie zwar Häme. Aber Telebielingue, Canal 3 und das BT sowieso werden den Fokus auf Sie richten, ob Sie nun in Golaten, Epsach oder Türmliwil auftreten. Vielleicht kommt sogar Schweiz aktuell.

Der erste Eindruck ist entscheidend. Legen Sie also Sorgfalt in die Begrüssung. Liebi Froue, Manne u Chind! Dann die Gemeinderäte und -innen, falls diese nicht in Florida oder Rimini brutzeln. Den Pfarrer und die Lehrerin können Sie unter «Froue u Manne» abbuchen. Das war früher anders. Wichtig: Vergessen Sie die Burkaträgerin in der dritten Reihe rechts nicht. «As-salâ-mu aleikum, Burkina!» Unter dem schwarzen Tuch könnte sich Ihre Schulfreundin Vreni Krähenbühl verbergen, die nun beim Islamischen Zentralrat die Protokolle schreibt.

Das mit der Begrüssung hätten wir also. Im übrigen feiern wir den 719. Geburtstag der Eidgenossenschaft. Aber bitte rechnen Sie nochmals nach.

Nun zur Rede. Wenn Sie nicht in Teufels Küche kommen wollen, vermeiden Sie a) Humor, den versteht in der Schweiz niemand, und b) aktuelle Themen. Kritik am Bundesrat ist insofern überflüssig, als wir seit 1848 permanent den schlechtesten Bundesrat aller Zeiten haben. Verlangen Sie nicht den Rücktritt von Merz, sonst grüsst Sie der örtliche FDP-Präsident in der Chäsi nicht mehr. Verzichten Sie auf jegliche Medienkritik. Sowas mögen die Schreiberlinge nicht. Bezeichnen Sie Ghadhafi nicht als Spinner, sonst bekommen Sie an der Tamoil-Tankstelle kein Benzin mehr. Nichts über das Burkaverbot. Vreni unter dem schwarzen Tuch würde das gleich notieren, und dann Gnad Ihnen Allah. Nichts gegen die Deutschen. Die sind an der WM immerhin Dritte geworden, während wir nach dem dritten Spiel – aber lassen wir das. Uns hat nicht mal ein deutscher Trainer geholfen.

Nichts über Landwirtschaftspolitik, nichts über Gesundheitspolitik, nichts für oder gegen neue Kampfflugzeuge, nichts über Abzocker. Kurz: Nichts über Themen, welche die Froue u Manne von Türmliwil getrost denen in Bern oben überlassen sollten.

Nun haben wir also die Begrüssung und die Liste der Tabuthemen. Bleibt der Schluss. Der muss fulminant sein, mitreissend, zukunftsweisend, yes we can, applausverlängernd. Er kann darüber entscheiden, ob man Sie im Nachbardorf auf die provisorische Rednerliste für 2011 setzt. Der Schluss ist das, was bleibt – bis die Dorfmusik den Schweizerpsalm bläst.

Wenn Sie nun meinen, all diese gut gemeinten Tipps seien auf meinem Mist und auf meiner Erfahrung als siebenfacher Augustredner gewachsen, dann muss ich Sie korrigieren. Es war der begnadete Redner Winston Churchill (ja, der vom Blut, vom Schweiss und von den Tränen), der gesagt hat: «Eine gute Rede hat einen Anfang und ein Ende. Was dazwischen liegt, sollte möglichst kurz sein.»

Diesen Dazwischenteil kann ich Ihnen nicht auch noch schreiben, Sie sind ja die Rednerin, der Redner, und nicht ich. Aber Sie haben ja noch eine Woche Zeit. Fast.“

Martin Bühler im Bieler Tagblatt vom 26.7.2010