„Einige Oligarchen vom Zürichsee finanzieren das SVP-Extrablatt“
Interview im Tagesanzeiger und im Bund am Dienstag 10. September 2019
Die Fragen stellte Markus Brotschi, Bundeshausredaktor
Ruedi Baumann, Sie waren von 1997 bis 2001 Parteipräsident der Grünen und leben heute in Frankreich. Bereuen Sie es, dass Sie beim absehbaren Wahlerfolg der Grünen im Herbst nicht aktiv dabei sind?
Ich wäre zurzeit gerne wieder Präsident der Grünen. Aber im Ernst: Die guten Aussichten für die Grünen freuen mich sehr.
Sie hätten als Auslandschweizer kandidieren können.
Davon halte ich nicht viel. Wie soll jemand aus Südafrika oder auch nur aus Frankreich die Anliegen der Auslandschweizer in Bern vertreten? Man ist zu weit weg vom politischen Alltag und die spezifischen Interessen der Auslandschweizer können die Parlamentarier mit Schweizer Wohnsitz auch einbringen. Ich und meine Frau verblieben bis 2003 im Nationalrat, obwohl wir bereits 2001 unseren Wohnsitz nach Frankreich verlegt hatten. Wir reisten jeweils mit dem Nachtzug nach Bern zu den Kommissionssitzungen, weil ich als Grüner nicht fliegen durfte. Das war sehr anstrengend und ich fragte mich gelegentlich, worüber die eigentlich in diesen Kommissionssitzungen stundenlang diskutieren.
Wie intensiv verfolgen Sie die Schweizer Politik noch?
Ich verfolge vor allem die Umwelt- und die Landwirtschaftspolitik, wenn auch nicht mehr in allen Details. Ich und meine Frau schauen um halb acht meistens die Tagesschau, danach das Telejournal auf France 2 und vergleichen dann, wie unterschiedlich die Gewichtung der Weltpolitik ausfällt.
In der Schweiz dominiert zurzeit die Klimapolitik, ist das in Frankreich auch so?
Es findet vielleicht nicht so ein Hype um das schwedische Schulmädchen statt. Aber mich hat es sehr gefreut, als in Frankreich die Grünen bei den Europawahlen im Mai auf 14 Prozent kamen. Ich finde aber auch, dass Macron eine gute Politik macht, für mich ist er die letzte Hoffnung für Europa.
Seine Benzinpreiserhöhung und die Tempolimite ausserorts haben zu blutigen Strassenschlachten geführt.
Die Landbevölkerung in Frankreich kritisierte, dass sie keine Alternative zum Auto habe. Da hat sie auch recht, ÖV existiert faktisch nicht. In Frankreich gibt es zudem meist eine grosse Solidarität der Bevölkerung mit den Protestierenden, etwa als diese die Autobahnzahlstellen blockierten. Auch die Polizei lässt solches eine Zeitlang gewähren, in der Schweiz wäre wohl längstens die Armee aufgeboten worden. Aber die Gilet-jaunes-Bewegung hat sich weitgehend erledigt. Es setzt sich jeweils nach einer gewissen Zeit auch in Frankreich der Pragmatismus durch. Nun können die Departements entscheiden, ob 90 oder 80 ausserorts gilt. Ich weiss allerdings heute noch nicht genau, wie es bei uns ist. Mein Navi gibt immer noch 90 an.
In der Schweiz hat man das Gefühl, Frankreich hinke umweltpolitisch hinterher. Stimmt das?
Frankreich hat dank der EU enorme Fortschritte gemacht. Als wir hierher zogen, gab es im Umfeld von 15 Kilometern keinen Bauern, mit dem ich biologisches Saatgut tauschen konnte. Mittlerweile produzieren alle in der Region biologisch. Im ganzen Departement Gers liegt der Bio-Anteil bei 20 Prozent. Das Departement hat die Schweiz bei weitem überholt. Viele Gemeinden haben ein Pestizid-Verbot beschlossen. Zwar ist noch unklar, ob sie das rechtlich durchsetzen können. Aber immerhin dürfen im Umkreis von 150 Metern um Gebäude keine synthetischen Pestizide mehr verwendet werden. Ich war entsetzt, als ich kürzlich gelesen habe, dass in der Schweiz nicht veröffentlicht wird, in welchen Wasserfassungen die Grenzwerte überschritten werden. In Frankreich wird das regelmässig überprüft und detailliert publiziert. Frankreich hat im Umweltschutz mit der Schweiz zumindest gleichgezogen. Aber natürlich wehrt sich hier der grosse Bauernverband genauso wie jener in der Schweiz gegen ein Pestizidverbot.
Die Klimabewegung stellt radikale Forderungen, etwa die Reduktion des CO2-Ausstosses innert zehn Jahre auf netto null. Sollten sich die Schweizer Grünen nicht besser eine politisch realisierbare Klimapolitik formulieren?
Die Grünen sollen sich auf jeden Fall den radikalen Forderungen anschliessen. 50 Jahre lang haben wir die Klimaerwärmung nun verdrängt. Wer vor dem Verlust von Arbeitsplätzen warnt, muss sich fragen, welche anderen enormen Kosten die Klimaerwärmung verursachen wird. In der Schweiz bröckeln die Alpen, sie ist besonders betroffen von der Erwärmung. Wir können uns noch nicht vorstellen, welche Kosten auf uns zukommen zur Sicherung der Siedlungen und Verkehrswege in den Bergen. Tourismus wird in gewissen Bergregionen kaum mehr möglich sein. Und wir hatten bei uns in Traverseres diesen Sommer 42 Grad, ich war froh um den klimatisierten Traktor. Wenn ich die Klimatabellen bis in die 50er-Jahre zurückverfolge, haben sich die Temperaturen in unserer Gegend, die am Fuss der Pyrenäen liegt, in diesem Zeitraum um 2-3 Grad erhöht.
Dennoch, die radikalen Forderungen der Klimabewegung sind kaum mehrheitsfähig.
In der Politik wird vieles abgeschliffen und verzögert. Man muss 100 Prozent fordern, wenn man am Schluss wenigstens 50 Prozent erhalten will. Und auch wenn sich die Grünen hinter radikale Forderungen stellen, stützen sie sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Im Gegensatz zur Schweizerischen Mehrheitspartei, die SVP. Die Darstellung der politischen Gegner als Ungeziefer gleicht der Wahlpropaganda der Nazis. Solche Plakate wären selbst in der Partei von Marine Le Pen nicht möglich, das gäbe einen Aufschrei.
Bei der Klimapolitik setzt die SVP darauf, dass das Volk höhere Energieabgaben ablehnt.
Ich bin guter Hoffnung, dass sich die SVP mit ihrer gegenwärtigen Politik schadet. Wenn SVP-Exponenten behaupten, der Klimawandel sei kein Problem, entspricht das sicher nicht der Wahrnehmung vieler Landwirte.
Im Kanton Bern reichte es, dass die SVP vor der Benachteiligung der des Gewerbes und Landbevölkerung warnte, um ein neues Energiegesetz zu bodigen.
Das war enorm enttäuschend. Ich habe mit den Volksabstimmungen in der Schweiz zunehmend Mühe, weil es keine gleich langen Spiesse gibt. Vor einer Abstimmung finanzieren einige Oligarchen vom Zürichsee ein Extrablatt für jeden Haushalt. Es gibt keine gesetzlichen Zwang zur Finanzierungstransparenz. Überall in Europa gälte dies als Korruption, was in der Schweiz möglich ist. Das ist unhaltbar für eine europäische Demokratie.
Sie plädieren seit jeher dafür, dass die Schweiz der EU beitritt. Werden Sie das noch erleben?
Ob das zu meinen Lebzeiten geschieht, weiss ich nicht. Ich erhoffte mir immer, mal noch für die die Schweizer Grünen ins EU-Parlament gewählt zu werden. Aber vielleicht bleibt der Schweiz irgendwann nichts anderes mehr übrig als der EU-Beitritt, weil es mit den Bilateralen nicht mehr weitergeht. Von aussen betrachtet, ist es schier unverständlich, wie in der Schweiz monate- und jahrelang irgendwelche Details zu diesem Rahmenabkommen zerredet werden. Das nimmt in Europa nun wirklich niemand mehr ernst. Ich ärgere mich immer wieder, wenn in einer statistischen Erhebung zur Früheinschulung oder einem sonstigen Thema die Schweiz als schwarzes Loch auf der Karte erscheint, weil sie nicht mitmacht.
Die Grünen sehen sich nicht nur als Umweltpartei sondern auch als Bewegung des gesellschaftspolitischen Fortschritts. In Zürich stellten die Grünen das Model Tamy Glauser auf, doch zog sich die politisch unerfahrene Frau nach einem Fehltritt wieder zurück. War die Kandidatur ein Fehler?
Ich finde, dieser Versuch war richtig. Ich habe Tamy Glauser an einer Europaveranstaltung in Zürich gesehen. Es fehlt ihr keineswegs an politischem Verständnis. Aber in der heutigen Medienwelt wird jedes falsche Wort skandalisiert. Natürlich hat sie einen Blödsinn gesagt, aber das kann allen passieren. Wenn man jeden SVP-Kandidaten derart unter die Lupe nehmen würde, käme wohl noch ganz anderes zum Vorschein.
Ihr Sohn kandidiert im Kanton Bern auf der Nationalratsliste der Grünen. Wie gross schätzen Sie seine Chancen ein?
Er stammt ja nicht von schlechten Eltern. Aber ich gehe nicht davon aus, dass er gewählt wird. Er ist der Quotenmann eines Quartetts mit den Bisherigen Regula Rytz und Aline Trede sowie der neu Kandidierenden Christine Badertscher. Falls die Grünen einen dritten Sitz holen, wäre dies ein Erfolg.
Die Wahlerfolge der Grünen hängen von der Themenkonjunktur ab. Die Klimadiskussion dürfte ihnen zu einem Wahlerfolg verhelfen. Wie nachhaltig kann dieser sein?
Der globale Klimawandel wird uns während Jahrzehnten beschäftigen und nicht nur für eine Themenkonjunktur sorgen. Dies wird sich auf die Parteienlandschaft auswirken. Wenn die Grünliberalen noch bei den Grünen wären, wären diese die zweitstärkste Partei in der Schweiz.
Allerdings ginge dann das politische Spektrum der Grünen von der Mitte bis ganz linksaussen und politische Richtungskämpfe wären vorprogrammiert.
Ich fand es immer positiv, wenn kontroverse Diskussionen geführt wurden und die grünen Parteiversammlungen nicht zu einem Gottesdienst wurden.
Welchen Wähleranteil erreichen die Grünen im Herbst?
10 Prozent.
Sollen die Grünen einen Sitz im Bundesrat fordern?
Ein Bundesrat verhilft in der Schweiz nun Mal zu Medienpräsenz und ist deshalb wichtig. Falls die Grünen die CVP überholen, sollen sie den Anspruch erheben, zumal sie auch im Ständerat Chancen auf den einen oder anderen Sitz haben. Mit ihrer Präsidentin Regula Rytz kandidiert eine erfahrene und vernünftige grüne Politikerin, die sicher nicht extreme Positionen vertritt. Sie macht ihren Job hervorragend.
Die Grünen sind bisher vor allem in den Städten stark, nicht aber auf dem Land.
Die Grünen sollten sich nicht nur auf die grossen Städte konzentrieren. Was mich immer wieder erschreckt, wenn ich in die Schweiz zurückkomme, ist der Niedergang der Dörfer. Diese werden zu reinen Schlaforten, ohne gesellschaftliches Leben. Allein im Raum Grossaffoltern, wo ich herkomme, sind in den letzten Jahren sechs Gasthöfe geschlossen worden. Wenn irgendwo ein Bären schliesst, müsste man daraus ein kulturelles Zentrum machen, wo sich die Bevölkerung weiterhin treffen kann. Das wäre eine Aufgabe für die Grünen, denn die bürgerlichen Mehrheiten bringen das meist nicht zustande. Die SVP-dominierten Gemeinderäte kümmern sich nur um Strassenbau.
Redaktion Tamedia
(Tages-Anzeiger, Der Bund, Berner Zeitung, Zürcher Regionalzeitungen, Basler Zeitung)
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